donaukurier
Kampf gegen Blasenentzündung
Stadtbild – an sich ein harmloses Wort. Doch wenn es der Kanzler benutzt, darf gewettet werden: Wird es das Wort des Jahres oder das Unwort des Jahres? Umfragen deuten auf ein klares Bild: Es gibt viele Leute, die empört sind. Und es gibt viele Leute, die des Kanzlers Stadtbild-Analyse für sehr gelungen halten. Ganz zu schweigen von den Leuten, die bisher daheim weder von Städten noch von Dörfern Bilder aufgehängt haben. Wie es sich für eine medienaffine Demokratie gehört, sieht jedermann und jederfrau den jeweils eigenen Standpunkt bestätigt. Warum? Weil sich mittlerweile so ziemlich der ganze Westen in eine Blasendemokratie verwandelt hat. Wer in der eigenen Blase bleibt, kann sich sicher sein, jederzeit Recht zu kriegen. Das macht den Alltag planbarer, strukturierter und deshalb auch angenehmer. Mit anderen Meinungen gibt es keine Probleme, solange sie gar nicht erst auftauchen.
Friedrich Merz hat als Bundeskanzler die Aufgabe, das gesamte Volk anzusprechen. Wenn das gelingen soll, muss er unbedingt im Ungefähren bleiben. Nur so hat Merz die Chance, völlig unterschiedlich und vielfältig gedeutet zu werden. Und nur so bleibt man auch tagelang im Gespräch. Natürlich hätte er gleich so was wie „Kriminelle Hotspots in Innenstädten und an Bahnhöfen dürfen nicht geduldet werden“ sagen können. Aber was hätte das zur Folge gehabt? Alle hätten genickt. Diverse Berühmtheiten, die variabel zu jedem beliebigen Thema sofort eine Demo aus dem Boden stampfen, hätten nichts zu tun gehabt. So viel Ödnis im öffentlichen Diskurs kann sich ein Land im Stillstand aber nicht leisten. Der Kanzler ist somit endgültig im Amt angekommen, weil er sich jederzeit verstanden und unverstanden fühlen kann. Mit ein bisschen Glück wird sogar eine neue Kunstgattung entstehen: Stadtbildmalerei! Ein Stillleben muss nicht unbedingt die berühmte Kerze auf dem Nachtkästchen oder die Obstschale auf dem Küchentisch sein. Wieso nicht mal der gutgelaunte Dealer am Stadtpark, über den sich deutsche Konsumenten freuen? Oder der freundliche Messerstecher, der für eine bunte und doch deutsche Familie die Festtagsente tranchiert? Die Vielschichtigkeit in der Gesellschaft könnte so wunderbar dokumentiert werden. Und das Leben in der Blase wird noch entspannter. Wenn aber nur das Aussehen zählen soll, riskiert jede Gesellschaft eine Blasenentzündung.